Die Macht der Muskeln

Eine Geschichte von Jörn Auf dem Kampe Teil 1

Die Mobilmacher des Körpers halten uns fit – das weiß man schon länger. Nun aber stößt dies Wissenschaft auf immer neue Belege, wie umfassend die Muskulatur unsere Gesundheit schützt. Sofern wir sie richtig nutzen.

Die Forscher kleben mir ein paar silbrige Kügelchen aufs Bein, dann bin ich bereit für das Experiment. Kameras werden gleich millimetergenau jede Position der damennagelgroßen Kugel erfassen. Eine Platte wird die Kraft messen, sobald ich sie mit den Füßen von mit wegschiebe. Sofern mir das gelingt. Immerhin ist sie an einen Roboterarm montiert, der die physische Präsenz eines Berggorillas besitzt – und sich gleichzeitig so feinmotorisch bewegen soll wie eine Ballerina.

Noch ruhe seine weißen Glieder aus Gusseisen, seine Gelenke, seine Elektromotoren. Irgendwas summt ein Lüfter. Laut Website des Herstellers eignet sich das Ungetüm „besonders für das Punktschweißen und liefert beste Prozessergebnisse bei geringen Investitionskosten“. Heute soll der „KR 160 R1570 nano“ mein Trainingspartner sein. Gemeinsame Übung von Roboter und Reporter: die Beinpresse, ein Klassiker jedes Fitnessprogramms. Und eine Übung, die so gut erforscht ist wie keine andere.

Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft, an einem Wintermorgen. Draußen vor den Fenstern des Labors ziehen Studenten und Lehrkräfte vorbei. Kaum jemand schaut hinein. Dabei beginnt hinter der Scheibe die Zukunft des Muskeltrainings. Das jedenfalls hofft Kirsten Albracht. Zusammen mit Ingenieuren und Programmierern hat ihr Forschungsteam dem gut 700 Kilogramm schweren Industrieroboter so viel Feingefühl und Umsicht beigebracht, dass er mit Menschen arbeiten kann.

Sieben Jahre hat das gedauert, nun nehmen die ersten Probanden für eine klinische Studie vor der Maschine Platz. „Anders als ein simples Fitnessgerät ,dessen Gewichte man wuchtet, besetzt der Roboter Intelligenz“, sagt Albracht, „denn er kann die Belastung für sein Gegenüber anpassen.“ Er stoppt, sobald der Sportler stoppt. Er versucht, Überbelastungen zu verhindern und ungünstige Bewegungen zu korrigieren. Und er soll dazulernen. Anhand der Abstände der Kugelmarker errechnet sein Algorithmus, wie ich mein Bein anwinkle, wie schnell ich es bewege. Die Messplatte verrät, mit welcher Kraft ich presse. Aus diesen Daten schließt der Roboter, welche Belastungen in Hüfte, Knie und Knöchel gerade bei mir wirken. Er fühlt gewissermaßen in sein Gegenüber hinein. Man wird ihm auftragen können, bei einem Arthrosepatienten den Schongang einzulegen und olympische Zehnkämpfer so richtig zu fordern.

Und auch die Kölner wollen dazulernen: aus den anonymisierten Daten der Nutzen, vieler Nutzer. Bei welcher Belastung verbessert sich die Kraft, was lässt Muskeln wachsen? Un kann man damit besser als jemals zuvor eine Herausforderung meistern, die den allermeisten bevorsteht: die Muskulatur bis ins hohe Alter zu erhalten?

Kirsten Albracht muss lachen, als ich sie frage, ob darüber nicht längst alles bekannt ist. „Die Anatomie eines Muskels versteht man sehr gut. Aber wie Training ihn genau verändert, das ist immer noch rätselhaft.“

Zu Beginn dieser Recherche bilde ich mir ein, dass ich schon viel über die Motoren des Körpers weiß. Und dass ich sie schon allesamt gefordert habe. Ich fahre Ski, trainiere für Triathlonwettkämpfe und gehe Boulder, in der Kletterhalle und am Fels. Ich kenne die Anzahl der Muskeln, die ein Mensch hat: mehr als 650. Ihr Anteil an der Körpermasse: bis zu 57 Prozent. Ohne Muskeln stünden wir still, es gäbe kein Händeklatschen, keine schwingenden Stimmbänder, keine Verdauung.

Mir ist klar, dass sie unterschiedliche Aufgaben erfüllen, aber die allermeisten dafür da sind, uns von A nach B zu bewegen. Wobei grob gesehen zwei Typen von Muskelfasern zum Einsatz kommen. Zum einen die Abteilung „schnell und stark“: Sie ist hauptsächlich bei Sprint oder Klimmzug gefragt, entfaltet binnen kürzester Zeit maximale Kraft, aber ermüdet rasch. Dann die Ausdauer-Fraktion: agiert bedächtiger, läuft und läuft und läuft, treibt und voran, wenn wir joggen. Was gut ist für die Gesundheit, weil es den Kreislauf ankurbelt, das Herz stärkt und stimmungsaufhellend wirkt. Muskeln sind also brave Dienstleiter, denke ich anfangs, Mittel zum Zweck,  Befehlsempfänger.

Am Ende werde ich begreifen: Das stimmt nicht. Muskeln sind keine Gehilfen. Sie sind eine Instanz mit eigener Agenda. Sie kommunizieren mit anderen Geweben, steuern sie und wirken sogar auf das Hirn ein. Gemeinsam stellen sie unser schwerstes Organ – das mit dem Rest des Körpers auf komplexe Weise verwoben ist.

Lange hat die Forschung dieses Beziehungsgeflecht übersehen. Seit wenigen Jahren aber fügt sich ein neues Bild der Muskeln; man beginnt zu verstehen, warum sie jenseits ihrer Funktion als Antriebseinheit lebenswichtig sind. Dass sie uns vor Krankheiten schützen – wenn wir sie beanspruchen. Es gibt erste Hinweise, dass Muskeln sich rächen, wenn man ihre Ansprüche ignoriert.

Deshalb wird diese Geschichte auch um ein paar unangenehme Wahrheiten gehen, und um Fruchtfliegen, Grizzlybären und das Weltall. Aber auch darum, Antworten zu finden auf eine der große Fragen der Sportwissenschaft – was man tun kann, um stark und gesund zu bleiben.

Stay tuned für Teil 2 im nächsten Newsletter.