Die Macht der Muskeln Teil 3

Im Labor der Sporthochschule Köln soll ich nun ganz locker mit den Füßen die Platte wegschieben, die am Roboterarm befestigt ist. Er weicht in einem fließenden Zug fast widerstandslos zurück. „Diesen Ablauf speichert der Roboter und lernt so, was dem Bewegungsvermögen des Benutzers entspricht“, sagt Albracht. Ich werde gleich exakt diese Bewegung wiederholen – dann allerdings gegen den Widerstand eines Gewichts. Jeder Schub meiner Beine, weiß ich inzwischen, wird sich dann auch an anderer Stelle in meinem Körper niederschlagen.

Womit endlich die guten Nachricht beginnen. Wissenschaftler betrachten Bewegung als eine der besten Schutzmaßnahmen gegen Krankheiten und Alterserscheingungen – vor allem, weil dann Myokine ausgeschüttet werden. „Dass Sport gesund ist und das Leben verlängert, weiß man zwar schon lange aus statistischen Erhebungen“, sagt Christoph Handschin am Telefon, „aber mittlerweile findet man immer neue Beweise, dass der Muskel dabei eine unglaublich wichtige Rolle spielt.“

An der Universität Basel leitet Handschin die Forschungsgruppe „Molekulares Verständnis von gesunden und kranken Muskeln“, und er spricht mit Begeisterung von den Motoren des Körpers, über ihre Macht, die Myokine und die erstaunliche Erkenntnisse darüber.

Zum Beispiel: dass die Muskulatur mit vielen Geweben vernetzt ist. Und zwar mittels eben jener Myokine, die sie bei oder nach Bewegung in die Blutbahn abgibt. Eines mit der Bezeichnung „IGF-1“ etwa gelangt bis in die Knochen und regt dort Zellen zur Teilung an. „Was zur Folge hat, dass Knochen Substanz aufbauen und sich so vor Osteoporose, also Knochenschwund, wappnen“, sagt der Schweizer Forscher. Die Botschaften der Muskeln dringen auch ins Fettgewebe vor und bewirken, dass sich weißes in braunes Fett verwandelt. Dabei schmelzen nicht nur die als ungesund geltenden Depots der weißen Masse ab. Braunes Fett dient auch als körpereigene Heizung – deren Betrieb Kalorien verbrennt, was wahrscheinlich die Gewichtsabnahme beschleunigt.

Myokine kurbeln auch die Produktion von Botenstoffen des Immunsystems an, mit der Folge, dass chronische Entmündigungen zurückgedrängt werden. Zwei Muskel-Botschafter mit dem klangvollen Bezeichnungen „Cathepsin B“ und „Irrsinn“ schaffen es bis ins Hirn, was Forscher bei Experimenten mit Mäusen herausgefunden haben. Dort fördern sie die Bildung eines Stoffes, der selber eine Art Wachstumsprogramm initiiert: Er lässt aus Stammzellen Neuronen entstehen, die wichtigsten Elemente unseres Denkorgans. Was möglicherweise das Gedächtnis verbessert und vielleicht gar Demenz unwahrscheinlicher werden lässt.

Eine kleine Studie mit einer Handvoll Patienten am Universitätsklinikum Erlangen ergab kürzlich, dass Myokine womöglich helfen, das Wachstum von Darm- oder Prostatatumoren zu hemmen, selbst wenn der Krebs fortgeschritten ist. Gleiches könnte, einer andere Studie zufolge, bei Brustkrebs gelten. Unsere Muskeln, eine Allzweckwaffe?

Der Kölner Sportmediziner Wilhelm Bloch verwendet noch eine ganz andere Metapher: Er hält die bewegte Muskulatur für eine „körpereigene Apotheke“, die vor vielen Krankheiten schützt, nicht nur Osteoporose oder Krebs, sondern auch Depressionen oder Diabetes. Was die Frage aufwirft: Welche Art von Bewegung befähigt Muskeln zu guten Taten?

Sporthochschule Köln, Institut für Bewegung- und Neurowissenschaften, auf dem Stuhl der Roboter-Beinpresse. Eine Kollegin der Projektleiterin Kirsten Albracht stellt auf ihrem Touchscreen einen Regler ein: Ich soll die gleiche Bewegung wie beimTestlauf vollführen, aber jetzt mit 90 Kilogramm Gegengewicht und unter konstantem Tempo.

Dass Menschen auf diese Weise mit einem Roboter arbeiten, ist neu. „Solche Maschinen stehen sonst an den Fertigungsstraßen der Industrie“; sagt Albracht, „aus Sicherheitsgründen meistens hinter Gittern.“ Das Kölner Exemplar darf sich frei bewegen, aber in bestimmten Grenzen, die verhindern, dass Sportler von dem Trumm erdrückt werden.

Dann drücke ich Knöpfe auf den beiden Griffen links und rechts des Sitzpolsters, an denen ich mich festhalt, und entsichere den Roboter. Ein hoher, sirrender Ton erklingt, die Platte vibriert, während ich schiebe. Was sich anfühlt, als würde der Roboterarm leben, ein Techno-Kraftprotz, muskelbepackt und feinfühlig zufgleich. Wie ein fürsorglicher, aber fordernder Trainer. Aber das Gerät hat noch mehr drauf.

Auf einem Monitor sehe ich eine 3-D-Nachbildung meines rechten Beines, desjenigen, auf dem die Kugeln kleben. Das Bild zeigt transparente Bälle, an der Hüfte, am Knie, am Knöchel. Wo ich mehr Kraft aufwende, schwellen sie auf Übergröße an, wie eine Kaugummiblase. Sobald das System einsatzbereit ist, werden sich die Bälle rot verfärben, falls Gelenke dabei überstrapaziert werden, so der Plan.

Demnächst soll die zusammen mit Partnern aus der Industrie und der Technischen Hochschule Aachen entwickelte Maschine weitere Übungen lernen, für den Rücken, die Arme, die Beine. „RoboGym“ nennen die Kölner das Konzept, bei dem der Roboter zwischen verschiedenen Anwendungen wechselt, sich selber Griffe oder Stangen ansetzt. Und damit er in Zukunft sein Gegenüber noch genauer einschätzen kann, soll jeder Sportler außerdem in einem 3-D-Bodyscan vermessen werden. Sämtliche Daten speichert das Trainingsgerät dann als eine Art Avatar, ein präzises digitales Abbild des Nutzers.

Sollte Albrechts metallener Kraftmeier irgendwann in Fitnessstudios, auf Olympiastütztpunkten und in Rehazentren zum Einsatz kommen, dann hofft die Forscherin auf big data, einen Strom von Daten darüber, wie sich Muskeln in welchen Altersgruppen am besten optimieren lassen, welche Übungen bei wem am meisten bringen. Das wäre eine Revolution in der Muskelforschung. Training würde sich dann viel exakter planen lassen.

„Bisher ist da noch viel vim Zufall abhängig. Wir können jedes Flugzeug vor dem Jungfernflug simulieren“, sagt Albrecht, „aber nicht, wie Menschen auf eine Übung reagieren.“ Sie versucht den Körper daher zu durchdringen wie ein Luftfahrtingenieur eine Turbine und wenn sie über ihr Projekt spricht, fallen Begriffe wie Regelkreis, Newtonmeter, Soll- und Ist-Werte. Interesse an der Erfindung hätten schon Rehakliniken gezeigt, sagt sie, ebenso Betreiber von Kreuzfahrtschiffen, Investoren aus Japan und den Golfstaaten. Das vom Forschungsministerium geförderte Projekt ließe sich aber auch als Indiz verstehen: dass in Sachen Kraft und Muskeln Nachholbedarf besteht.

Wer fit bleiben will, sollte joggen, schwimmen oder radeln – so denken viele. Pures, hartes Krafttraining mit Gewichten dagegen gilt oft immer noch als öde Alternative oder notwendiges Übel. Aber nicht gerade als Teil eines Masterplans für die Gesundheit. Diese Auffassung wandelt sich: „Rethinking exercise“ nannte das Wissenschaftsmagazin „New Scientist“ im Frühjahr 2020 eine Titelgeschichte, was man als „Training neu denken“ übersetzen könnte. Das Fazit: Ausdauer ist nicht alles, Kraft ist das neue Ding.

Das britische Gesundheitsministerium verwies erstmals 2011 in einer Empfehlung darauf, dass Krafttraining unbedingt zur Prophylaxe von Krankheiten ins wöchentliche Fitnessprogramm gehört. Die WHO empfiehlt sogar schon 5- bis 17-Jährigen, die Muskeln zu stärken. Und erst recht den Älteren, an mindestens zwei Tagen pro Woche. Zum einen, weil man – was naheliegt – so den Schwund bremst. Und zwar nachhaltig. „Sogar 80- bis 90-Jährige weisen nach entsprechendenÜbungen Muskelzuwächse auf“, sagt Heinz Kleinöder von der Sporthochschule Köln. Nebeneffekt für fitte Rentner: Wer Muskeln hat, stürzt seltener.

Zudem könnte Sport die Produktion der Myokine ankurbeln. Noch weiß man wenig über die genauen Mechanismen“, sagt der Hildesheimer Sportwissenschaftler Sebastian Gehlert, „aber sehr wahrscheinlich werden durch Krafttraining besonders viele Botenstoffe ausgeschüttet“. Je stärker also die Muskeln beansprucht werden und je mehr Muskelmasse ein Mensch hat, desto mehr Myokine bringen sie auf den Weg.

All das bedeutet aber nicht, dass man die Laufschuhe in die ecke werfen und nur noch Gewichte stemmen sollte. Monotonie verträgt sich schwer mit unserer Stammesgeschichte. Homo sapiens gilt als Generalist – nicht nur als bester Jogger in Tierreich. Er liegt auch als andauernder Wanderer weit vorn, ist ein fulminanter Werfer, ein passabler Kletterer und Schwimmer. Sportmediziner Wilhelm Bloch sagt: „Wer immer nur für einen Halbmarathon trainiert, der trainiert einseitig. Und dafür ist der Mensch nicht gemacht“.

Der Mix aus Ausdauer und Kraft ist also entscheidend. Das beweist auch ein achtwöchiges Experiment an der University of Illinois in Chicago, bei dem unsportliche, übergewichtige Probanden in drei Gruppen aufgeteilt wurden; sie absolvierten entweder nur Krafttraining, stiegen ausschließlich nur aufs Radergometer – oder taten beides. Die Teilnehmer der dritten Gruppe schnitten am besten ab – sie senkten ihren Blutdruck und die Zuckerwerte, verloren Fett, stärkten das Herz.

Für derlei Effekte braucht es keinen großen Aufwand: „Dreimal Training pro Woche reichen, um gesund zu bleiben“, sagt Heinz Kleinöder. Sein Fitnessplan: In Woche eins trimmt man zweimal Ausdauer und einmal Kraft. In der Folgewoche genau umgekehrt. Danach im Wechsel. 30 Minuten je Einheit reichen. Kraft: abwechselnd alle großen Muskelgruppen strapazieren , fertig. Und an einem Kraft-Tag immer Spieler und Gegenspieler trainieren – also etwas Bauch und Rücken.

Bei Ausdauer: Anstrengend soll sich das Training zwar anfühlen, aber niemand muss bis zur Erschöpfung rennen oder radeln. Kleinöder schätzt das „Fahrtspiel“, ein lustiges Wort wie von Turnvater Jahn. Es bedeutet: Immer mal wieder beim Joggen das Tempo wechseln, mal schnell, mal langsam laufen.

Als der Roboter stoppt, spüre ich, das meine Oberschenkel in Betrieb waren – und der Gluteus maximus, einer der größten Muskeln, jener, der dem Hintern Form verleiht. Ich sollte das öfter machen. Für die Myokine, für die Gesundheit.

Kirsten Albracht und ihr Team verfolgen noch ein weiteres Projekt: Die Kölner haben gerade erste Tests für ein Gerät abgeschlossen, das an einen Mars-Rover erinnert – den Roboter-Rollator „Robotrainer“. Das dreirädrige Hightech-Gefährt, eine Entwicklung des Karlsruher Instituts für Technologie, soll Senioren herausfordern. Der Roboter prüft, wohin der Fahrer steuert. Er baut Schikanen ein, lenkt plötzlich in eine andere Richtung, provoziert ein heftiges Eingreifen des Benutzers und schult so den sicheren Gang. Oder er lässt sich plötzlich schwerer schieben eeund verlangt nach mehr Kraft.

Er ist nicht nur ein Altenheim-Roboter. Sondern auch ein Versprechen: Für die Muskeln ist es nie zu spät.