Die meiste Zeit atmen wir unbewusst – ohne darüber nachzudenken, was unsere Lunge ein ganzes Leben lang leistet. Wie von selbst versorgt sie das Blut mit Sauerstoff, das diesen zu jeder Körperzelle transportiert. Ein Streifzug durch ein faszinierendes und schützenswertes Organ.
Das tiefe Luftholen angesichts einer fordernden Aufgabe, der flache schnelle Atem unter Stress, der wohlige Seufzer vor Erleichterung – Leben ist Atmung. Wie wir atmen, sagt viel darüber aus, in welcher Situation wir uns befinden und wie es uns emotional gerade geht.
Damit wir je nach Bedarf pusten, hauchen, hecheln, schnaufen und schnauben können, leisten Lungen und Atemwege Erstaunliches. Mit jedem Atemzug – pro Tag nimmt der Mensch rund 20.000 – gelangt etwa ein halber Liter Luft in die Lunge. Das Organ ist groß und komplex. Es verästelt sich wie ein umgekehrter Baum über immer kleiner werdende Bronchienäste bis zu den winzigen Lungenbläschen. Dieser ausgefeilte Aufbau hat einen enormen Vorteil: Er vergrößert die Oberfläche , die zum Gasaustausch zur Verfügung steht. Würden man die gesamte Oberfläche der Lunge nebeneinander ausbreiten, käme man auf etwa 100 Quadratmeter – die Größe einer 3-Zimmer-Wohung! In den 300 Millionen traubenartig angeordneten Lungenbläschen findet schließlich der Gasaustausch statt. Ihre Hülle ist so dünn, dass Gase hindurchgehen können: Mit jedem Atemzug gelangt Sauerstoff aus de Luft hinein. Über den Blutkreislauf wird er im Körper verteilt und zu jeder Zelle gebracht. Im Gegenzug wird Kohlendioxid, das als Abfallprodukt beim Stoffwechsel entsteht, aufgenommen und mit der nächsten Ausatmung aus dem Körper befördert.
Dafür, dass sich die Lunge alle paar Sekunden wie ein Blasebalg ausdehnt und wieder zusammenzieht, ist nicht das Organ, sondern die Atemmuskulatur verantwortlich: Das Zwerchfell, das die Bauch- von der Brusthöhle trennt, ist der wichtigste Atemmuskel. Wenn es sich anspannt, vergrößert es den Brustraum nach unten. Die Lungenflügel dehnen sich aus. Durch den Unterdruck strömt Luft ein. Sobald bei ruhiger Atmung die Muskeln erschlaffen, verkleinert sich der Brustraum wieder – die Luft wird aus der Lunge gedrückt. Strengen wir uns gerade an, beteiligen sich diverse Muskeln, vor allem die Bauchmuskeln, an der Ausatmung. „Die Atmung integriert viele verschiedene anatomische Strukturen und braucht das einzigartige Zusammenspiel vom Zwerchfell, weiterer Muskulatur , Nerven und Atemzentrum“, sagt Prof. Dr. Wolfram Windisch, Chefarzt Pneumologie der Kliniken Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP). Das Atemzentrum im Hirnstamm fungiert als Taktgeber und reguliert die Arbeit aller beteiligten Muskeln. Die notwendigen Informationen liefern Dehnungsrezeptoren in der Lunge und Chemorezeptoren. Diese „Fühler“ messen dem Gehalt an Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid sowie den Säuregrad im Blut. So passt sich die Atmung optimal an – ob wir ruhig schlafen oder uns beim Sport verausgaben.
Nicht(s) rauchen
Das Coronavirus hat die Lunge schlagartig in den Fokus gerückt und die Bedeutung von Erkrankungen des Atemorgans aufgezeigt. Anders als Herz, Niere und Milz steht die Lungen direkt mit der Außenwelt in Kontakt. Sie ist aufgrund ihrer immensen Oberfläche Umweltbelastungen, Pollenflug oder Keimen in der Luft besonders ausgesetzt. Das macht sie so verwundbar. „Die Lunge ist durch die Evolution darauf eingestellt, dass sie saubere Luft atmet“, sagt Experte Windisch. Man tue ihr Gutes, indem man sie schützt. Zuallererst bedeutet dies, nicht zu rauchen. „Viele Fremdstoffe , die wir inhalieren ob über Vaporizer, E-Zigaretten, Zigaretten, Joints, Feinstaub oder Gase, schaden ihr“, betont Windisch. „Die Diskussion, ob beim Dampfen irgendetwas weniger schlecht ist, ist absurd“. In Deutschland raucht etwa jeder vierte Erwachsene. Einer Forsa-Umfrage zufolge tun dies auch wieder mehr Jüngere. Der Anteil unter den 16- bis 29-Jährigen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Dabei sind die Folgen gut untersucht: Raucher verlieren durchschnittlich zehn bis zwölf Lebensjahre, oft sind sich auch bereits vorher einige Jahre schwer krank. „Das Rauchen nimmt plus/minus ein Vierteljahrhundert an guter Lebenszeit“; sagt Windisch.
Die Lunge ist ein leistungsstarkes und zugleich zartes Organ. „Je differenzierter das System, desto störanfälliger“, erklärt Lungenarzt Windisch. Atemwege und Lunge verfügen durchaus über raffinierte Schutz- und Reparaturmechanismen: Schon in der Nase filtern Härchen Schmutz heraus – daher sollte man möglichst wenig durch den Mund atmen. In den Bronchien fangen Schleim und Flimmerhärchen, die sich hin- und herbewegen wie Ähren im Wind, feinere Partikel ab und transportieren sie wieder nach oben. Und tief im Inneren des Organs, in den Lungenbläschen, verleiben sich Fresszellen des Immunsystems, sogenannte Alveolarmakrophagen, schädliche Fermdkörper ein wie ein Staubsauger. Manche Partikel gehen jedoch allen Reinigsungssystemen durch die Maschen. Insbesondere winzige Qanopartikel und Ultrafeinstaub können bis in die feinsten Verästelungen der Lunge vordringen und dort lange bleiben.
Beschwerden ernst nehmen
„Es macht einen großen Unterschied, ob etwas innerhalb der Evolution neu für den Organismus ist oder nicht“, so Lungenarzt Windisch. Die heutige kontinuierliche Belastung durch Feinstaub oder Tabakrauch sei ein Problem. Denn mit der Zeit entstehen Entzündungsprozesse, die – wie bei der schleichend fortschreitenden Lungenerkrankung COPD – die Atemwege dauerhaft entzünden und verengen können. Atmen wird dann zum Ringen um genügend Sauerstoff. Die schwelende Entzündung kann auch zu einer Vernarbung des Lungengewebes wie bei einer Fibrose führen oder die Entstehung von Lungenkrebs fördern.
Eine häufige Erkrankung der Atemwege ist Asthma, bei dem sich die Bronchialschleimhaut chronisch entzündet und es zu einer Überempfindlichkeit der Atemwege kommt – ausgelöst etwa durch Allergien oder Virusinfekte. Von den Erwachsnen sind hierzulande zwei bis fünf Prozent betroffen, Frauen öfter als Männer. Dank vielfältiger Therapiemöglichkeiten lässt sich Asthma heute gut behandeln. Betroffene können in der Regel symptomfrei leben.
Die Hauptbeschwerden, die von der Lunge ausgehen, sind die drei „AHA-Symptome“. „Atemnot, Husten und Auswurf sollte man nicht als normal ansehen oder als natürliche Alterserscheinung verbuchen, sondern ärztlich abklären lassen“, sagt Experte Windisch. „Gerade bei der COPD sind eine frühe Diagnose und Therapie entscheidend, da bei der Erkrankung das feine Lungengewebe unwiederbringlich zerstört wird. “
Den Atem entschleunigen
Im Gegensatz zu anderen Grundfunktionen des Körpers wie der Verdauung oder dem Herzschlag lässt sich die Atmung beeinflussen. Wir können ruhiger oder schneller atmen – und so auf den Organismus einwirken. „Es gibt an sich kein falsches oder richtiges Atmen“, sagt Prof. Dr. Thomas Loew, Chefarzt der Klinik für Psychosomatik am Universitätsklinikum Regensburg. „Menschen atmen, wie es die Situation erfordert. Aber wir schöpfen die Möglichkeiten nicht aus.“ Der Mediziner untersucht seit 25 Jahren verschiedenste Atemrhythmen mit wissenschaftlichen Methoden. „Als therapeutisch wirksam hat isch das entschleunigte Atmen herausstellt“; sagt Loew. Im Alltag atmen Erwachsene 12- bis 16-mal pro Minuten ein und aus. Verlangsamt man diesen Rhythmus bewusst auf sechsmal pro Minute, täuscht man dem Körper eine entspannte Situation ähnlich dem Schlaf vor. Das gelingt, wenn man vier Sekunden lang tief in den Bauch einatmet und sechs Sekunden aus. „Es ist wie ein Reflex für den Körper, zur Ruhe zu kommen, Stresshormone abzubauen“, so der Experte.
Laut klinischen Studien wirken sich zweimal täglich zehn Minuten entschleunigtes Atmen positiv auf die Gesundheit aus. „Der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer, die Muskeln entspannen sich“, sagt Loew. Empfehlenswert sei die Technik auch bei Ängsten, Panikattacken, Einschlafstörungen, Asthma und COPD. „Es reicht aber nicht aus, einmal tief durchzuatmen“, betont der Mediziner. Unter drei Minuten stelle sich bei nur wenigen Menschen ein Effekt ein, nach zehn Minuten dagegen bei den meisten. „Die Regeneration braucht ihre Zeit“, sag tLoew. Das Beste sei, verschiedene Zweiten auszuprobieren und anschließend in sich hineinzuspüren: Wie wohl fühle ich mich? Wie ruhig bin ich? Was hat sich verändert?
Stress- und Angstgefühle Wegatmen, dem Körper eine Auszeit verschaffen – wer regelmäßig kontrolliert atmet, hat ein wertvolles Tool für den Alltag. Studien zeigen, dass die Methode auch die Konzentrationsfähigkeit steigert. „Würden Schüler vor Prüfungen drei Minuten entschleunigt atmen, wären die Ergebnisse besser“, ist Experte Loew sicher. „Kinder sollten die Atemtechnik lernen wie Lesen und Rechnen – als Handwerkszeug fürs ganze Leben. Dann hätten wir für die Gesundheit unserer Gesellschaft einiges erreicht.“