Uwe Meier ist Neurologe und Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Neurologen. Er erklärt, warum Dauerstress Ursache vieler Erkrankungen ist, warum wir uns häufig selbst in diesen Zustand versetzen und wie wir da wieder rauskommen können.
Im Folgenden haben wir für Euch ein Interview mit Uwe Meier aufbereitet.
Wer oder was ist Ihnen zuletzt richtig auf die Nerven gegangen?
Ich versuche, mich nicht über Alltagsdinge aufzuregen, weil sich das meistens einfach nicht lohnt. Es gibt aber zwei Trends, die mich nerven. Der eine ist, wenn Regeln wichtiger sind als der Mensch. Denn Regeln sind ja für die Menschen gemacht.
Und der zweite?
Dass wir unter dem Druck stehen, uns schnell eine feste Meinung bilden zu müssen – verbunden mit einer großen Empörungsbereitschaft. Beispielsweise wenn es um Themen wie das Gendern oder den Konflikt im Nahen Osten geht. Die Wirklichkeit ist aber oft kompliziert und nicht schwarz-weiß. Man muss manchmal auch die Widersprüchlichkeit der Welt aushalten und sich nicht gleich beschimpfen.
Was passiert im Körper, wenn wir genervt sind?
Erst einmal muss das Gehirn enorm viele Informationen aufnehmen, filtern und auf Relevanz und Bedeutung prüfen. Die Evolution hat uns dabei zwei Muster mitgegeben: zu identifizieren, was da draußen passiert und unsere Gedanken, die sich um die Frage drehen: Ist das gut oder schlecht für uns? Diese Unterscheidung hat auch eine Entsprechung im Nervensystem.
Und wie funktioniert die?
Dinge, die uns potenziell schaden könnten, machen uns Stress. Dafür wurde der Stress erfunden. Denn wenn es uns egal wäre, ob der Säbelzahntiger uns frisst oder nicht, hätten wir es in der Evolution nicht so weit geschafft. Das Nervensystem sorgt dafür, dass wir uns bei Stress unwohl fühlen und beispielsweise vor dem Säbelzahntiger weglaufen. Der Körper stellt dazu einen Strauß von Stressfaktoren bereit: Dann steigen zum Beispiel Puls, Blutdruck und die Muskelspannung, Stresshormone werden werden ausgeschüttet und das Gehirn in einen Alarmzustand versetzt.
Und wenn uns etwas Gutes widerfährt?
Dann passiert das Gegenteil und wir werden innerlich belohnt. Die Zeichen unserer Zeit stehen jedoch auf Überforderung. Das macht sich im Nervensystem und im Körper bemerkbar. Wenn wir nicht nur akut, sondern dauerhaft unter Stress stehen, dann ist das nicht banal. Denn Dauerstress führt zu körperlichen und psychischen Erkrankungen.
Da Spektrum der neurologischen Erkrankungen reicht vom Schlaganfall über Epilepsie bis hin zu Depressionen und klingt für den Laien in sich recht unterschiedlich. Was ist der gemeinsame Nenner?
Die gemeinsame Klammer ist das Gehirn. Es ist die Schaltzentrale zwischen der Psyche, dem Körper und dem Geist. Das Gehirn ist die Verbindung zwischen unserer Innen- und Außenwelt. Wenn diese Koordinationszentrale krank ist, dann haben wir ein großes Problem, weil es uns als Ganzes trifft. Und je nachdem, an welcher Stelle die Beeinträchtigung liegt, kann das körperliche, seelische und psychische Auswirkungen haben. Sie können zum Beispiel die Motorik betreffen, die Sensorik, das Denken, das Fühlen oder auch unsere Fähigkeiten, Probleme zu lösen.
Wann macht uns Stress denn krank?
Ausschlaggebend ist nicht der der gefühlte Stress, sondern das, was im Körper tatsächlich als Stressreaktionen übersetzt wird. Viele Menschen denken, Arbeit ist Stress, aber das ist gar nicht zwangsläufig so. Wir haben dann ein Problem, wenn wir unter Dauerstress stehen und Entspannungs- und Regenerationsphasen fehlen.
Was kann man selbst tun, damit kein Dauerstress eintritt?
Man kann ganz viel tun. Das eine ist Sport und Bewegung. Sich auszupowern, hilft, Stress abzubauen und hinterher in die Entspannung und Regeneration zu kommen.
Und das andere?
Das ist unsere Geisteshaltung. Denn wir sind in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sehr stark auf äußere Werte gerichtet. Wir glauben, wenn wir zum Beispiel noch diesen Urlaub machen, jenes größere Haus kaufen und dann noch dieses Auto fahren – dann wird alles gut.
Nicht?
Damit setzen wir uns selbst unter Druck. Denn erstmal muss man das Geld dafür verdienen und damit sind auch Aktivitäten verbunden. Wir wissen heute, dass tief empfundenes Glück und Zufriedenheit mit unserer inneren Einstellung einhergehen und damit, inwieweit wir unserem Handeln einen Sinn verleihen.
Also läuft da etwas falsch in unserer Gesellschaft?
Was wir in unserer Gesellschaft nicht sehr ausgeprägt haben, ist eine Kultur des Bewusstseins, bei der die Frage im Mittelpunkt steht, wie wir richtig mit unserem Geist umgehen. Das heißt, wie wie wir mit leidvollen Zuständen umgehen und gute Bewusstseinszustände herbeiführen. Das haben wir nicht gelernt. Dabei gibt es in westlichen wie östlichen Kulturen jahrtausendalte Praktiken wie Yoga oder Meditation, an die wir uns wieder erinnern sollten. Vieles davon finden wir auch in modernen Psychotherapieverfahren wieder.
Wie können wir uns geistig vor Dauerstress schützen?
Es geht um die Bewertung der Dinge. Vieles, was uns stresst, müsste uns gar keinen Stress machen. Dinge, die wir nicht ändern können, sollten wir lernen zu akzeptieren. Wichtig ist auch, wie wir lernen, aus negativen, krankmachenden Gedankenschleifen herauszukommen, die mit negativen Körperzuständen verbunden sind. Sie verhindern manchmal den Blick auf Problemlösungsstrategien.
Wahrscheinlich sollten wir dann auch aufhören, daran zu glauben, dass Äußerlichkeiten und eine möglichst perfekte Wahrnehmung von anderen uns ein glückliches Leben bescheren?
Sogar beim Yoga, wie es in westlichen Kulturen praktiziert wird, geht es manchmal darum, eine schöne Haltung einzunehmen und eine Leistungssteigerung herbeizuführen oder eine Selbstoptimierung. Das ist aber das Gegenteil von dem, was es meint. Ich rate dazu, von Äußerlichkeiten Abstand zu nehmen. Denn es geht darum, aus diesem Fluss auszutreten. Das kann man nicht intuitiv, das ist eine Kultur.
Wie kann man so eine Kultur etablieren?
Das ist nicht so einfach, denn es wird uns nicht in die Wiege gelegt, nicht in der Schule vermittelt und auch nicht im Job. Es geht einher, dass wir eine Gesellschaft sind, in der Überforderung, Burnout und Depressionen einen erschreckenden Stellenwert haben. Wir haben fast keine Resilienz. Es ist nicht die Frage, dass das Leben stressig ist. Es ist die Frage, wie wir mit Stress umgehen.
Warum haben wir das nicht gelernt?
Fast 80 Jahre Frieden mit zunehmendem Wohlstand haben uns wohlfühlen lassen in unserer Umgebung. Deshalb haben viele von uns keine Resilienz. Man muss von sich auf etwas dafür tun, um sie zu erlangen. Das Zauberwort heißt Selbstregulation.
Was vermag die Selbstregulierung zu zaubern?
Damit ist gemeint, dass man aus sich heraus lernt, mit Stress umzugehen. Das heißt, dass ich einen klaren Blick auf das bekomme, von dem ich glaube, dass es mich stresst. Und Strategien entwickle, damit umzugehen. Dazu gehört, dass ich im Leben auch negative Erfahrungen zulasse – zum Beispiel als Kind beim Klettern aus dem Baum falle, um mit dieser Erfahrung die Koordinationsfähigkeit zu verbessern. Oder dass ich in der Schule mal schlechte Noten schreibe, ohne dass gleich die Helikoptereltern einen Anwalt verständigen – und mich aus eigener Kraft verbessere.
Warum sind Misserfolge wichtig?
Wenn ich lerne, dass ich Herausforderungen aushalten und bewältigen kann, dann erfahre ich Selbstwirksamkeit. Und das macht stark. Deshalb sollten wir so eine Geisteshaltung schon in der Schule lernen. Damit lernen wir auch Resilienz und prosoziales Verhalten. Gemeint ist ein Perspektivwechsel und sich vorzustellen, wie sich der andere fühlt. Das brauchen wir dringend.
Praktizieren Sie selbst auch, was Sie empfehlen?
Ja natürlich! Ich versuche, Sport zu machen, habe da aber nicht die intrinsische Motivation und würde mich eher als Quartalsläufer bezeichnen. Aber wenn ich einmal dabei bin, dann macht es mir auch Spaß.
Und sonst?
Ansonsten mache ich Yoga und Meditation. Meditation ist eine perfekte Art, eine Bewusstseinskultur zu erlernen und mit Yoga als Schnittstelle den Geist, den Körper, Psyche und Geist. Da finde ich all das wieder. Das Gehirn ist das komplizierteste Ding im Universum. Deswegen gab es am Ende für mich nur die Neurologie.
Eine Disziplin, in der sich in den vergangenen Jahrzehnten Welten bewegt haben…
Die Neurologie war früher eher ein diagnostisches Fach. Viele Erkrankungen, die als unbehandelbar galten, können wir heute sehr gut behandeln. In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten gab es einen dramatischen Anstieg neuer Therapien. Sogenannte Biologika – moderne Immun- und Antikörpertherapien – kommen zum Beispiel bei der Multiplen Sklerose zum Einsatz.
Was bedeutet das für Patienten?
Früher sind die Patienten fast ungebremst in die Erkrankung hineingelaufen und man konnte wenig machen. Heute hat man so gute Immuntherapien, dass man den meisten Patienten versprechen kann, dass die Erkrankung im besten Fall zum Stillstand kommt der so stark abgemildert wird, dass sie ein ganz normales Leben führen können. Es gibt noch Varianten, da funktioniert das noch nicht. Aber es kommen ständig neue Therapien dazu. Und wir haben immer mehr Erkrankungen, die diesem Beispiel folgen. Dazu gehören einige Muskelerkrankungen, aber auch degenerative Erkrankungen.
Es dürfen also immer mehr Menschen mehr Hoffnung haben?
Im nächsten Jahr erwarten wir eine Antikörpertherapie für die Alzheimerdemenz. Wenn man bedenkt, was das für eine Geisel der Menschheit ist – dann ist das eine ganz große Sache. Eine andere große Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist, dass Menschen im psychischen Erkrankungen durch moderne Psychopharmakologie ein normales Leben führen können. Natürlich haben sich auch die psychotherapeutischen Verfahren weiterentwickelt. Früher war das eher ein bisschen „pfui“, heute ist es Mainstream, fast Lifestyle.