Die Macht der Muskeln Teil 2

Die schlechten Nachrichten zuerst: Nichts hält ewig, auch nicht der Muskel. Wer über 30 ist, den wird die folgende Information vermutlich nicht gerade beruhigen: Ab diesem Alter schwindet die Muskulatur, jedenfalls statistisch betrachtet. Alle zehn Jahre schrumpft sie um fünf Prozent, ab 70 beschleunigt sich der Rückbau. „Kein altersbedingter Schwund im Körper ist so gravierend wie dieser“, hat der Mediziner Irwin Rosenberg von der Tafts University in Massachusetts mal gesagt. Auf ihn geht der Begriff „Sarkopenie“ zurück, der „Mangel an Fleisch“.

Dass Muskeln weichen können, ist keine Neuigkeit. Nur haben Ärzte das Problem lange nicht als wichtig angesehen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennt den Niedergang, also die Sarkopenie, erst seit 2016 als eigenes Krankheitsbild an, bei dem zwei Dinge geschehen: Umbau und Schwund. Muskelfasern werden durch Fettgewebe ersetzt. Zudem nimmt die Anzahl der Blutgefäße ab, die Verknüpfungen zwischen Nervenzellen und Muskelfasern verkümmern. Das Prinzip hinter beiden Vorgängen: ein ökonomisches. Zum einen baut der Organismus ab, was er scheinbar nicht mehr benötigt, ein Standardvorgang, der in einigen unserer Gewebe abläuft. Zum anderen erhöht der Körper den Anteil an Fett, seinem größten Energiespeicher, um ihn in Zeiten des Mangels anzapfen zu können.

Die Defizite haben nicht nur mit der Zahl der Lebensjahre zu tun. Auch wer nicht trainiert, muss damit rechnen, dass die Muskeln schwinden, das gilt auf der Erde wie im Weltall. Die Sportwissenschaftlerin Albracht beobachtet das Problem bei Astronauten der Internationalen Raumstation (ISS), die sie in Köln und Houston untersucht – um so Rückschlüsse auf irdische Patienten ziehen zu können. Bis zu einem Fünftel ihrer Muskeln büßen die ISS-Bewohner bei den teils monatelangen Aufenthalten in der Schwerelosigkeit ein – ohne Krafttraining auf der Raumstation wäre der Verlust noch größer: Ihnen fehlt die Gravitation, gegen die unsere Muskulatur auf der Erde arbeitet, wenn sie unseren Körper bewegt. Schneller weicht sie bei Covid-19-Erkrankten auf den Intensivstationen. Gesunde sind ebenfalls nicht immun dagegen, schon gar nicht Schreibtischarbeiter. Was den Schwund betrifft, habe Dauersitzen fast die gleichen Effekte wie ein Langzeitaufenthalt im Bett, schreibt der Anthropologe Dan Lieberman aus Harvard in einem Buch über die Evolution von Homo. sapiens.

Obwohl es ein Milliardenbusiness wäre, sind bisher keine Medikamente gegen den Verfall auf dem Markt. Jedenfalls keine, die ohne Nebenwirkungen auskommen und sich auch für Kranke oder Betagte eignen. Forscher vom Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin fahnden nach geeigneten Lösungen. Und zwar bei Grizzlybären, die – ähnliche wie Covid-19-Patienten oder ISS-Astronauten – eine Zeit lang ihre Muskeln kaum beanspruchen: nämlich im Winter.

Die Bären weisen eine bemerkenswerte Eigenschaft auf: Während ihrer mehrmonatigen Winterruhe regen sie sich kaum, und dennoch bleiben ihre Muskeln erhalten, ein bewahre unfairer Vorteil. Die Forscher wollen wissen, was beim Grizzlybär anders läuft. Und dabei den Hebel finden, mit dessen Hilfe sich der Schwund bei uns bremsen ließe. Sie analysieren Muskelproben der Grizzlys und vergleichen sie mit denen bettlägeriger Menschen. Sie sondieren darin die Aktivität von den Genen und die Konzentration von Eiweißen. Dabei haben die Wissenschaftler erste Proteine ausgemacht, die irgendwann im Rahen einer Therapie das Muskelwachstum fördern könnten. Allerdings ist es bis zu einer Anwendung noch mehr als eine Weile hin, eine pharmazeutische Rettung auch sonst nicht ein Sicht. Der Mensch hat also ein Muskelproblem. Die Frage ist: wie schlimm ist es? Und: Kriegen wir es in den Griff?

Anruf bei Fabio Demontis, in Memphis, Tennessee. Was passiert im Körper, will ich wissen, wenn wir Muskeln verlieren, sei es durch Stillstand, Krankheit oder im Alter? Der Molekularbiologe abreitet am St. Jude Children’s Research Hospital, das sich der Erforschung von Tumoren bei Kindern verschrieben hat. Dementis will verstehen, warum schon die Muskeln der kleinen Patienten schwinden, eine Nebenwirkung des Krebses – und wie das aufzuhalten wäre. Dafür beherbergt er Scharen von Drosophila melanogaster, der Schwarzbäuchigen Fruchtfliege, in seinem Labor. Seine Studienobjekte gelten als Modellorganismen, deren Analyse Erkenntnisse liefert, die auch für andere Lebewesen gültig sind. Zum Beispiel für den Menschen.

Fabio Demontis manipuliert dabei das Erbgut der Insekten. Er kann Gene an- oder ausschalten, und schon schwinden die Muskeln der Fliege kaum noch, auch wenn das Insekt altert. „Und dann geschieht etwas Merkwürdiges“, sagt der Forscher, „auch andere Gewebe der Fliege halten dem Alterungsprozess stand, sie bleiben länger jung.“ Dazu zählen das Hirn, die Retina und das Fettgewebe. Dementis hat sogar herausgefunden, dass derart manipulierte Tiere länger leben. Seine Folgerung: Intakte Muskeln zögern den Tod hinaus. Aber Dementis sieht auch eine Kehrseite dieser Erkenntnis: Muskelschwund könnte die Lebenszeit verkürzen. Das ist die Rache der Körpermotoren.

Für Dementis ist die Muskulatur so etwas wie ein Taktgeber des Daseins, im übertragenden Sinn. Sie beeinflusst andere Organe. Im guten wie im Schlechten. Baut sich Muskulatur ab, leidet auch der Rest. Diese Regel gilt auch für Menschen, glaubt Demontis. Und: „kein Gewebe im menschlichen Organismus schwindet so schnell wie unsere Muskulatur.“

Der Wissenschaftler sieht sie deshalb als mächtigen Akteur, der übe unser Wohlergehen mitbestimmt. Ihren Einfluss machen Muskeln besonders mithilfe von Botenstoffen geltend, welche sie selber herstellen und dann auf die Reise durch den Körper schicken. Diese Substanzen können uns helfen. Aber auch Prozesse hervorrufen, die Demontis als „schädlich“ bezeichnet. Dann leider wie bei der Fliege auch beim Menschen die Gesundheit – und wir altern schneller. Der Name dieser Botenstoffe: Myokine, vom griechischen Mystik für Muskel und kinema, Bewegung.

Im jähr 2003 erfand die dänische Medizinerin Bente Klarlund Pedersen von der Kopenhagener Universität das Kunstwort, als sie den ersten dieser Botenstoffe entdeckte. Seitdem hat die Wissenschaft mehr als 600 Myokine identifiziert, von denen bisher fünf Prozent erforscht sind. Muskeln sind damit die größten Produktionsstätte von Botenstoffen in unserem Organismus.

„Damit diese vorteilhaft wirken“, glaubt Fabio Dementis, „dürfen wir dieQuelle der Botenstoffe nicht in Ruhe lasse, sondern müssen sie strapazieren: Wir müssen die Muskeln benutzen.“

Bleibt dran für Teil 3 i nächsten Newsletter.